„Forscher stellen einige Vorteile des Stillens infrage – Langzeitnutzen konnte bei Geschwistern in Studie nicht belegt werden“ [1]
Diese Pressemeldung vom 28.02.2014 hat eine Welle von Artikeln in verschiedensten Tageszeitungen und Online-Medien ausgelöst.
Allgemeiner Tenor: Stillen ist doch nicht so wichtig, wie bisher angenommen. Die bisher festgestellten positiven Effekte der Muttermilchernährung sollen vielmehr durch wissenschaftliche Ungenauigkeiten entstanden sein [2] [3] [4].
Kann diese EINE Studie tatsächlich eine Millionen von Jahren alte, erfolgreiche Strategie der Natur und sämtliche Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte zur Überlegenheit von Muttermilch in Frage stellen oder gar widerlegen?
Schaut man sich die Studie einmal genauer an, kommen hier doch gehörige Zweifel auf.
Die Soziologen Cynthia Colen und David Ramey der Ohio State University werteten eine große Umfrage aus, die zwischen 1986 und 2010 in den USA durchgeführt worden war. Insgesamt lagen ihnen Daten von 8237 US-amerikanischen Kindern im Alter von 4 – 14 Jahren vor, die alle nach 1978 geboren waren [5] .
Ihre Fragestellung lautete: Gibt es bei gestillten Babys im späteren Leben positive Langzeiteffekte auf Gesundheit und Wohlergehen?
Dazu untersuchten sie 11 Ergebnisse: Body Mass Index (BMI), Übergewicht, Asthma, Hyperaktivität, Eltern-Kind-Bindung, Verhaltensauffälligkeiten sowie Wortschatz, Leseverständnis, Mathematik, Gedächtnis, Intelligenz und schulische Leistungen. Bei der Analyse der Gesamtgruppe kam heraus, dass gestillte Kinder in allen 11 Punkten besser abschnitten, außer bei Asthma.
Dann betrachteten sie nur eine Untergruppe von 1773 Geschwisterkindern aus 655 Familien, in denen ein Kind gestillt worden war und das andere nicht. Da Geschwister mehr Gene und frühe Lebenserfahrungen teilen als nicht miteinander verwandte Kinder, meinten die Forscher so sozioökonomische Faktoren zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ausschließen und das Stillen als alleinigen Faktor für Unterschiede in der Entwicklung isolieren zu können.
In dieser Untergruppe fanden sie nun keine oder nur unwesentliche Auswirkungen des Stillens auf die 11 untersuchten Werte. Daraus schlussfolgerten sie sodann, dass nicht das Stillen einen positiven Effekt auf die Langzeitergebnisse hat – sowohl in ihrer Gesamtgruppe, als auch in allen anderen früheren Studien – sondern sozioökonomische Faktoren. Letztendlich behaupten sie sogar, dass die Risiken durch die Ernährung mit künstlicher Säuglingsnahrung drastisch übertrieben werden.
Das klingt zunächst nach neuen Erkenntnissen, die prompt auf breites mediales Interesse gestoßen sind, was wohl durch die Wahl des Studientitels „Is breast truly best?“ auch bezweckt worden war. Bei genauerem Hinsehen stellt man allerdings fest, dass diese Studie nicht halten kann, was sie verspricht.
Was sind die Schwächen der Studie?
1) In der Studie wurde nur zwischen jemals gestillten und überhaupt nicht gestillten Kindern unterschieden. Bei den „gestillten“ Kindern wird nicht angegeben, ob sie von Beginn an gestillt wurden, wie häufig sie gestillt wurden, wie lange sie ausschließlich gestillt wurden, wie alt sie bei der Einführung der Beikost waren und wann sie abgestillt wurden.
Es kann also sein, dass hier als „gestillt“ eingestufte Kinder nur ein einziges Mal in ihrem Leben an der Brust ihrer Mutter waren oder nur 14 Tage gestillt wurden. Es kann sein, dass sie erst nach einer Woche Muttermilch bekommen haben oder von Geburt an überwiegend Flaschennahrung erhalten haben und zusätzlich noch 1x täglich die Brust bekamen und/oder schon mit 3 Monaten mit der Beikost begonnen wurde.
Eine derartig ungenaue Definition des Stillens verzerrt aber die Ergebnisse einer Untersuchung immer zu Gunsten der künstlichen Säuglingsnahrung, da die positiven Auswirkungen der Muttermilch bekanntlich dosisabhängig sind.
2) Weiter wurde in der Studie nicht überprüft, warum in einer Familie ein Kind gestillt wurde und das andere nicht. Vielleicht sind Frühgeborene oder Geschwister von bereits kranken Kindern häufiger gestillt worden, da sie als empfindlicher angesehen wurden und ja auch tatsächlich ein erhöhtes Risiko für eine Entwicklungsstörung hatten [6].
Vielleicht hatte die Mutter aber auch beim ersten Kind von Beginn an Stillprobleme und hat sich beim zweiten gleich von Anfang an für die Flaschenernährung entschieden. Folglich bestanden möglicherweise doch keine allzu großen Unterschiede in der Ernährung der Geschwister und demzufolge lassen sich auch nach 10 Jahren keine großen Unterschiede zwischen ihnen feststellen. Auch die allgemeine Lebenssituation oder die Gesundheit der Mutter kann bei dem Folgekind anders gewesen sein.
All diese Faktoren können ebenfalls zu Verzerrungen der Ergebnisse geführt haben.
3) Zudem gab es schon früher widersprüchliche Ergebnisse bei wissenschaftlichen Untersuchungen zum Einfluss der Muttermilch auf die kognitive Entwicklung oder das Auftreten von Asthma und Übergewicht. Hier spielen nun einmal sozioökonomische Faktoren, wie etwa Wohnort, Schulbildung und Berufe der Eltern, Ernährungsgewohnheiten, Bewegung, Schulart, usw., eine größere Rolle als das Stillen.
4) Andere wichtige, gut nachgewiesene Auswirkungen der Muttermilch auf die Gesundheit des Kindes, wie etwa die Reduktion von Atemwegsinfektionen, Magen-Darm-Infekten, Allergien, Diabetes, plötzlichem Säuglingstod, Krebs, usw. wurden bei der Bewertung der Forschungsergebnisse jedoch nicht berücksichtigt.
Auch die wissenschaftlich belegten, positiven Auswirkungen des Stillens auf die mütterliche Gesundheit, wie z. B.: das reduzierte Risiko für Brustkrebs, Eierstockkrebs, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Osteoporose und Depression sowie die durch das Stillen möglichen Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen, wurden von den Forschern völlig außer Acht gelassen [7].
5) Und last but not least, ist die Studie von Colen und Ramey (nur) eine Kohortenstudie. In einer Kohortenstudie werden verschiedene Gruppen von Personen beobachtet und miteinander verglichen. Auf diese Weise kann jedoch nur der Zusammenhang zwischen einem bestimmten Faktor (z. B. Muttermilchernährung) und dem Auftreten von bestimmten Ergebnissen (z. B. Krankheiten) festgestellt werden.
Die Ursache für eine Krankheit lässt sich nur durch eine randomisiert-kontrollierte Studie nachweisen. Eine solche Studie, bei der die Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip der Studien- oder der Kontrollgruppe zugeteilt werden, ist jedoch aus praktischen und ethischen Gründen beim Stillen nicht möglich [8].
Wird also die Überlegenheit der Muttermilch durch diese Studie in Frage gestellt?
Nein, diese Studie bringt keine neuen Erkenntnisse.
Stattdessen weist sie sogar gravierende Mängel auf und untergräbt noch dazu durch ihren provokativen und verallgemeinernden Titel die weltweiten Anstrengungen zur Förderung des Stillens.
Natürlich ist Stillen kein Allheilmittel. Auch gestillte Kinder können krank werden oder Entwicklungsstörungen haben, da neben der Ernährung auch andere Faktoren eine wichtige Rolle für die kindliche Entwicklung und die Gesundheit des Kindes spielen.
Es ändert jedoch nichts daran, dass Muttermilch die natürliche und beste Nahrung für Babys und Kleinkinder ist, denn das hat nicht nur die Wissenschaft, sondern die Evolution selbst, schon längst bewiesen.
Das Interesse der Medien an dieser Pressemeldung zeigt aber vor allem, dass die alte Journalisten-Regel „Wenn ein Hund einen Mann beißt, ist das keine Nachricht, denn das passiert sehr häufig. Wenn aber ein Mann einen Hund beißt, dann ist das eine Nachricht.“, immer noch Gültigkeit hat.
Autorin: Regine Gresens, IBCLC, April 2014
Foto: Summer via photopin cc
Literaturnachweise:
[1] Forscher stellen einige Vorteile des Stillens infrage – Langzeitnutzen konnte bei Geschwistern in Studie nicht belegt werden
[2] Was bringt Stillen wirklich? Muttermilch ist kein Allheilmittel
[3] Schlaue Kinder: An der Muttermilch liegt‘s nicht
[4] Wie wichtig ist Stillen wirklich?
[5] C.G. Colen & D.M. Ramey: Is breast truly best?
[6] Is breast milk really best, American study asks
[7] Breastfeeding and the Use of Human Milk
[8] Langzeit-Schutzeffekt von Muttermilch?
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