Autorin: Margarete Schebesch |
Es war einmal eine gute Fee, die hieß Belinda. Sie durchwanderte das Land in der Gestalt einer weisen alten Frau und half den Menschen in Not, welche sie auf ihrer Wanderschaft traf.
Eines Tages kam Belinda in eine große Stadt.
Schon vor den Toren der Stadt bemerkte sie auf den Türmen der Stadtmauern viele besonders schöne, bunte Fahnen. Jede Fahne hatte jedoch am unteren Ende einen breiten schwarzen Streifen.
Auch die Wappen auf den Schildern der Wachsoldaten am Tor hatten einen schwarzen Streifen aufgemalt und die Soldaten trugen ein schwarzes Band auf der Schulter.
Die Stadt war sauber und ordentlich gehalten, die Straßen waren breit und luftig und die Gebäude waren mit Blumenkränzen geschmückt.
Aber auch hier gab es trotz des bunten, fröhlichen Schmuckes überall die schwarzen Bänder.
Als Belinda über den Markt schritt, kam ihr eine Frau entgegen, die ihr kleines Kind an der Brust hatte. Die Frau sah glücklich aus und ihr Gesicht trug einen stolzen Ausdruck. Liebevoll strich sie Ihrem Kind immer wieder über das kleine Köpfchen und herzte und liebkoste es immerzu.
Belindas Herz wurde weich bei diesem Anblick, aber dann sah sie das breite, schwarze Band, welches die Frau an der Schulter befestigt hatte.
Sie wunderte sich sehr und beschloss, zu erfahren, was es bedeutete.
Belinda trat auf die Frau zu und sprach sie an: „Sei gegrüßt, gute Frau. Darf ich dich um eine Auskunft bitten?“
Die Frau erwiderte Belindas Gruß und blieb stehen. Neugierig schaute sie Belinda an, merkte aber, dass Belinda fröhliche Augen und ein gutmütiges Gesicht hatte.
„Auf dem Weg durch eure Stadt sah ich überall die schönen, bunten Fahnen, alles ist freundlich und festlich geschmückt, aber der Trauerflor ist allenthalben zu sehen und trübt das Bild. Was ist in eurer Stadt geschehen, dass die Menschen trauern müssen, obwohl sie fröhlich sind?“
„Oh,“ sagte die Frau, „das ist eine schlimme Geschichte. Vor einigen Tagen hat unsere Königin ein Kind zur Welt gebracht, einen Sohn.
Der König war so froh darüber, dass er die ganze Stadt festlich schmücken und überall die schönsten Fahnen aufhängen ließ. Alle Menschen freuten sich mit ihm und mit der Königin.
Doch seit der Geburt ihres Kindes ist die Königin in eine große Traurigkeit gefallen, aus der sie niemand mehr hervorrufen kann. Sie sitzt den ganzen Tag in ihrer Kammer und weint oder starrt trübsinnig vor sich hin.
Kein Arzt aus der ganzen Stadt konnte ihr helfen, denn sie lässt niemanden zu sich. Sogar der König muss sich über Boten mit ihr verständigen. Aus Trauer über den Zustand der Königin ließ er dann trotz des bunten Schmuckes den Trauerflor beziehen.“
„Und wer kümmert sich um das Kindlein?“ fragte Belinda weiter.
„Es hat natürlich eine Amme“, entgegnete die Frau, „wie es sich für königliche Kinder ziemt, nicht wahr?“
Belinda dankte der Frau und ging nachdenklich weiter. War dies vielleicht ein Fall, wo ihre Hilfe gebraucht wurde?
Der königliche Palast stand auf einem Hügel am nördlichen Ende der Stadt und es führte eine gewundene Straße steil hinauf. Belinda stieg auf den Hügel und bat, mit dem König sprechen zu dürfen. Sie sagte, sie sei eine weise Heilerin, die der Königin vielleicht helfen könne.
Der König empfing sie bald, denn er hoffte immer noch, dass seine Frau ihre Traurigkeit überwinden könne.
Belinda fragte den König, ob er eine Ahnung habe, warum seine Frau so traurig sei.
„Ich kann es mir nicht erklären“, sagte der König. „Sie hat sich mit mir zusammen auf das Kind gefreut und als es geboren wurde, schwelgte sie im Glück. Doch kurz danach überkam sie diese tiefe Traurigkeit. Sie isst nicht und kümmert sich um nichts mehr. Ihre Dienerinnen dürfen nicht zu ihr und deshalb weiß niemand, wie es ihr wirklich geht. Nur eine alte Kammerfrau, die schon ihre Amme war, darf sie besuchen und sie ist die einzige, die sie sieht.“
„Darf ich mich mit der Kammerfrau unterhalten?“ fragte Belinda den König.
„Das kannst du gerne tun“, antwortete der König. „Nur ist es so, dass diese Zofe seit ihrer Geburt stumm ist und nicht spricht. Mit der Königin verständigt sie sich durch Gebärden, welche meine Frau seit ihrer Kindheit beherrscht. Mit anderen Menschen verständigt sie sich mit kleinen Zetteln, die sie immer bei sich trägt. Vielleicht kannst du auch auf diese Weise mit ihr sprechen.“
„Ich will es versuchen“, sagte Belinda. „Ich beherrsche viele verschiedene Sprachen, und auch die Gebärden der Schweigenden sind mir nicht fremd.“
Belinda wurde in ein kleines Zimmer geführt, wo die alte Kammerfrau der Königin auf sie wartete. Als Belinda zu ihr trat und sie ansah, merkte die Kammerfrau, dass sie hier keine Zettel benötigte. Sie konnte mit Belinda durch ihre Augen sprechen.
Auch Belinda fühlte, dass sie der Kammerfrau vertrauen konnte und zeigte sich ihr in ihrer wahren Gestalt. Als die Kammerfrau die leuchtende Schönheit der Fee sah, fiel sie vor ihr auf die Knie. Doch Belinda half ihr wieder auf die Füße und bat sie, ihr zu zeigen, wie sie zur Königin kam.
Die Kammerfrau bedeutete ihr, dass sie ein besonderes Klopfzeichen hatte, worauf die Königin sie einließ. Vorher schaute die Königin aber durch ein kleines Loch an ihrer Tür, um sich zu vergewissern, dass sie keinen Fremden einließ.
Nun sprach Belinda zu der Kammerfrau: „Warte hier auf mich. Ich werde an deiner Stelle zur Königin gehen, wenn sie dich rufen lässt. Ich weiß vielleicht, wie man ihr helfen kann.“
Die Kammerfrau dankte ihr und blieb ruhig in ihrem Zimmer.
Als die Königin mit ihrer Glocke läutete, nahm Belinda die Gestalt der stummen Kammerfrau an und ging zur Tür der Königin. Sie klopfte das geheime Klopfzeichen an die Tür und hörte, wie die Königin zur Tür trat und die Klappe vor dem kleinen Loch öffnete.
Kurz darauf ging die Tür auf und die Königin ließ sie eintreten.
Belinda schaute sich im Zimmer der Königin um und erblickte ein Bild des Jammers. Auf dem Bett lagen noch die Laken, welche die Königin bei der Geburt ihres Kindes benutzt hatte.
Die Königin selbst war jung und schön, aber ihre Augen waren von den vielen Tränen geschwollen und glänzten fiebrig.
Unter ihrem engen Kleid wölbte sich ihre Brust und spannte den Stoff. Die Brust war mit einem breiten Tuch fest abgebunden, aber an den Stellen, wo die Brustwarzen sich befanden, waren große feuchte Flecken auf dem Tuch und den Kleidern der Königin.
Sie war schwach und konnte sich kaum auf den Beinen halten.
Auf dem Tisch gab es viele Teller mit angefangenen Mahlzeiten, welche die Königin jedoch nie aufgegessen hatte. Sie fiel Belinda um den Hals und ein Weinkrampf schüttelte sie.
Belinda fühlte, wie die Königin zitterte und hielt sie fest, damit sie nicht umsinken konnte.
Sie führte die Königin zu einem Sessel und sprach beruhigend auf sie ein. Dann richtete sie sich auf und zeigte der Königin ihre wahre Gestalt.
„Ich bin hier, um dir zu helfen“, sagte Belinda zur Königin. „Ich weiß um deinen Schmerz und ich weiß auch den Grund dafür.“
„Aber wie kannst du es wissen?“ fragte die Königin verwundert? „Ich habe niemandem davon erzählt und es würde mich niemand verstehen. Ich vergehe vor Sehnsucht und weiß mir nicht zu helfen.“
„Als erstes“, sagte Belinda, „erlaube mir, dir dieses Tuch abzunehmen. Es ist Unsinn, die Brust abzubinden, wenn sie die Milch für dein Kind bildet.“
Sie band das Tuch los und warf es zu den Laken auf dem Bett. Die Königin atmete erleichtert auf und sofort begann ihre Milch durch den Stoff des Kleides auf den Boden zu tropfen.
„Als nächstes gehen wir dein Kind holen.“ sagte Belinda. „Weißt du, wo wir es finden können?“
„Ich habe die Amme selbst ausgesucht“, antwortete die Königin. Sie wohnt neben dem Kinderzimmer, im westlichen Flügel.“
„Aber das ist ja auf der anderen Seite des Palastes!“ rief Belinda entsetzt. „Warum muss sie denn so weit weg sein?“
„Das ist so, damit das Weinen des Kindes den König und die Königin nicht stört“, sagte die Königin und brach wieder in Tränen aus.
„Komm mit und zeige mir den Weg“, sagte Belinda. „Ich stütze dich, dann schaffen wir das zusammen. Ich werde wieder die Gestalt der Kammerfrau annehmen, dann geht es vielleicht einfacher und wir werden nicht aufgehalten.“
Belinda änderte wieder ihre Gestalt und ging mit der Königin zusammen in den westlichen Flügel. Es begegneten ihnen viele Bedienstete, welche sie alle mit Verwunderung und Mitleid anstarrten.
Aber Belinda kümmerte sich nicht darum, sondern half der Königin weiter auf dem Weg zu ihrem Kind.
Als sie sich dem westlichen Flügel näherten, konnten sie schon das Kind weinen hören. Es war ein herzzerreißendes, jämmerliches Weinen und Belinda vermutete, dass das Kind schon sehr lange so weinen musste.
Als sie die Tür zum Zimmer der Amme öffneten, sahen sie die Amme am Fenster sitzen und nähen. Das Kind lag in einer Wiege neben ihrem Bett und schrie sich die Seele aus dem Leib.
Belinda lief zur Wiege und nahm das Kind heraus. Dann gab sie das Kind der Königin, welche es sofort an sich drückte. Belinda ging zur Amme, welche sie verständnislos ansah.
„Warum nährst du das Kind nicht, Frau, wenn es Hunger hat?“ fragte Belinda die Amme.
Diese ließ vor Schreck ihre Näharbeit fallen und wich zurück. Sie hatte ja geglaubt, die Kammerfrau sei stumm, und nun sprach sie mit einer mächtigen Stimme zu ihr.
Zitternd antwortete sie: „Es war noch nicht die Zeit, um es zu füttern. Seht ihr die Uhr dort drüben an der Wand? Erst wenn sie Mittag schlägt, darf ich das Kind nähren, da es sonst Bauchweh bekommt.“
Belinda schüttelte den Kopf und ging wieder zur Königin. Sie half ihr, die Knöpfe ihres Kleides zu öffnen, welche sich auf dem Rücken befanden.
Dann bat sie die Königin, sich auf den Stuhl der Amme am Fenster zu setzen, legte ihr Kind wieder in ihre Arme und zeigte der Königin, wie sie ihm helfen konnte, an ihrer Brust zu trinken. Das Kind öffnete gierig den Mund und trank die Milch seiner Mutter.
Als die Königin fühlte, wie ihr Sohn ihre Milch trank, legte sich ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht und eine große Freude und innere Ruhe breitete sich in ihr aus. Ihr Körper entspannte sich und die Traurigkeit fiel von ihr ab wie ein zerrissenes Kleid.
Belinda ging wieder zu der Amme und fragte sie: „Hast du eigene Kinder?“
„Ja“, antwortet die Amme. Ich habe ein Mädchen, das zwei Wochen alt ist. Meine Mutter achtet auf sie und füttert sie mit Ziegenmilch seit ich den Prinzen nähren muss. Es geht meiner Tochter nicht sehr gut. Ich glaube, die Ziegenmilch bekommt ihr nicht.“ Bei diesen Worten war die Amme selbst den Tränen nahe und ihre Finger krampften sich um ihre Näharbeit, die sie wieder aufgehoben hatte.
„Geh nach Hause“, sagte Belinda zu ihr. „Von heute an wird die Königin ihr Kind selbst stillen. Du sollst dein eigenes Kind nähren, damit es wieder kräftig wird. Wenn deine Tochter nicht mehr weiß, wie sie an deiner Brust trinken kann, dann komm mit ihr zusammen zu mir. Ich werde dir zeigen, wie du sie wieder lehren kannst, deine Milch zu trinken. Wirf die Uhr weg und lasse deine Tochter immer trinken, wenn sie sich regt.“
„Oh, seid gesegnet, weise Frau!“ rief die Amme. „Wie kann ich euch danken?“
„Indem du niemals wieder deine eigenen Kinder im Stich lässt, um andere zu nähren. Und indem du allen anderen Frauen erzählst, dass ihre eigene Milch für ihre Kinder das Beste ist, was es auf der Welt gibt.“
„Das will ich tun!“ sagte die Amme unter Tränen und lief hinaus.
Danach ging Belinda mit der Königin wieder zurück in den Ostflügel. Die Königin hielt ihren Sohn fest in ihren Armen und nach und nach legte sich der gleiche stolze Ausdruck auf ihr Gesicht, den Belinda schon bei der Frau auf dem Markt gesehen hatte.
Die Bediensteten wichen zurück, wenn die Königin vorbei kam, aber als sie die Freude in den Augen der Königin sahen, klatschten sie in die Hände und tanzten vor Freude durch das Schloss.
Der König hörte den Tumult und kam dazu. Verwundert und dankbar sah er das Lächeln im Gesicht der Königin und fragte sie, was geschehen sei.
Da verwandelte Belinda sich wieder und nahm die Gestalt der weisen Frau an, mit welcher der König sie kennen gelernt hatte.
„Die Königin war sehr krank vor Sehnsucht nach ihrem Kind“, sagte sie dem König. „Ihre Brust bildete die Milch für ihren Sohn, weil er sie aber nicht trinken konnte, schwoll die Brust an und entzündete sich. Das Fieber und die Schmerzen machten die Königin schwach und vor lauter Sehnsucht und Trauer konnte sie nichts essen. Von heute an soll sie sich selbst um ihr Kind kümmern. Es wird bei ihr schlafen und sie wird es nähren, es anziehen, waschen und mit ihm spielen. Niemand darf versuchen, den Prinzen von seiner Mutter zu trennen und die Königin muss jede Unterstützung erhalten, die sie braucht. Ich habe die Amme nach Hause geschickt, damit sie sich um ihre eigene Tochter kümmern kann, der es nicht gut geht.“
„Oh, wenn ich nur gewusst hätte!“ rief der König und umarmte die Königin. „Seit Jahrhunderten werden die königlichen Kinder von Ammen genährt und getrennt von der Mutter erzogen. Wie viel Schmerz haben sie alle gelitten! Aber jetzt soll das anders werden. Ich bin der König und erlasse hiermit ein Gesetz, dass niemals wieder eine Mutter von ihrem Kind getrennt werden darf, auch keine Königin. Und als nächstes gebe ich den Befehl, dass der Trauerflor entfernt wird und die Menschen sich endlich freuen und feiern können, wie es der Geburt eines Prinzen gebührt. Wir wollen ebenfalls feiern, denn ich habe einen Sohn!“
Nun begannen die Bediensteten im ganzen Schloss erst recht zu tanzen, zu singen und in die Hände zu klatschen. Überall erzählte man sich, was passiert war und die Stadt erstrahlte in Pracht und Schönheit wie nie zuvor.
Belinda blieb noch für einige Tage im Schloss bei der Königin und unterwies die stumme Kammerfrau und die Bediensteten der Königin. Sie lehrte sie, was zu tun sei, wenn die Brust der Königin sich entzündete und wie sie die Königin unterstützen, so dass sie sich ganz um ihren Sohn kümmern konnte.
Der König ließ einen Schneider kommen, der die Kleider der Königin ändern musste, damit man sie vorne aufknöpfen konnte.
Die Amme kam nach einigen Tagen mit ihrem Töchterlein, um die Königin zu besuchen. Das Mädchen trank wieder an der Brust der Amme und war wieder zu Kräften gekommen.
Die Amme brachte der Königin ein Geschenk: es war ein langes, buntes Tuch, wie es die Bauernfrauen hatten. Man konnte es zu einem Beutel formen und darin ein Kind fest an den Körper der Mutter binden.
Dann gingen die beiden Frauen mit ihren Kindern im großen Garten des Schlosses spazieren. Die Königin hatte die Hände frei und konnte die Blumen pflücken und ihr Sohn war warm und behaglich bei ihr und fühlte sich wohl.
Autorin: Margarete Schebesch, 15.08.2009
Foto: Daquella Manera via photopin cc